Lena - eine Weihnachtsgeschichte

23.12. 18 Uhr. Lena schaltet ihren Computer aus. Sie ist die letzte im Büro. Alle anderen sind schon längst zu Hause oder haben diesen Tag ganz frei genommen, um sich auf Weihnachten vorzubereiten. Lena arbeitet gern noch so lange. Sie liebt ihren Job und sie braucht keine große Vorbereitungszeit für Weihnachten. Denn sie lebt allein. Es ist schon interessant zu sehen, wie viel weniger Stress man in der Vorbereitung auf Weihnachten hat, wenn man allein lebt. Man muss deutlich weniger Geschenke besorgen. Große Festmenüs fallen aus. Das bedeutet weniger gedankliche Vorbereitung, weniger Zeit im Supermarkt und kein riesen Abwasch hinterher. 

Am Heiligabend geht sie immer zu ihrer Mutter. Ein wenig aus Pflichtgefühl – sie könnte auch gut für sich allein bleiben. Aber ihre Mama lebt auch allein und im Gegensatz zu ihr, leidet sie sehr darunter. Die Ehe mit ihrem Vater ist schon früh gescheitert und dieses Scheitern hat Lenas Mama bitter gemacht. Seitdem schwankt sie zwischen Männerhass „Wer braucht die schon, um glücklich zu sein?“ und der tiefen Sehnsucht nach einem Partner, der sie liebt und nicht verlässt. Dieser Zwiespalt tritt an Weihnachten besonders deutlich hervor. Das macht diesen Abend sehr anstrengend. 

So kann Lena sich auch am 24. nicht dazu bewegen, pünktlich loszugehen. Lena liebt ihre kleine Wohnung, die sie weihnachtlich geschmückt hat. Sie liebt die Ruhe dort und würde am liebsten mit einem guten Wein und dem Buch, das sie sich selbst zu Weihnachten geschenkt hat, den Abend auf dem Sofa verbringen. Aber das Pflichtgefühl treibt sie zu ihrer Mutter. Sie kommt eine halbe Stunde später als vereinbart und wird gleich mit Vorwürfen überschüttet. „Warum lässt du mich warten? Wolltest du mich versetzen? Wenigstens wir müssen noch zusammenhalten – gerade an Weihnachten. Es ist doch das Fest der Liebe.“ Den letzten Satz sagt ihre Mutter tränenerstickt. 

„Das geht ja gut los.“, denkt sich Lena. Sie geht gar nicht weiter darauf ein, küsst ihre Mutter, drückt ihr den mitgebrachten Weihnachtsstern in die Hand und hängt ihre Jacke auf. Dann betreten sie gemeinsam die Weihnachtsstube. „Leider habe ich keinen Weihnachtsbaum für dich.“ Sagt ihre Mutter mit leidiger Stimme. „Da fehlt mir einfach der Mann dazu.“ So lange sich Lena zurückerinnern kann, hatten die beiden nie einen Weihnachtsbaum. Lena vermisst da überhaupt nichts. Doch die Erfahrung hat sie gelehrt, wenn sie jetzt sagt, dass sie das gar nicht brauche, dass dann ein 15 minütiger Monolog startet, warum ein Weihnachtsabend nur mit Weihnachtsbaum perfekt ist. Am Ende ist ihre Mutter dann noch trauriger. Also sagt sie stattdessen: „Wollen wir nicht ein Glas Sekt zur Feier des Tages trinken? Komm, lass uns anstoßen.“ In Hoffnung damit die Stimmung etwas zu heben, holt sie die Sektgläser aus dem Schrank. Als sie beide ein wenig mit dem Korken zu kämpfen haben, fängt ihre Mutter wieder an: „Jetzt wäre ein Mann aber praktisch.“ Und so geht es den ganzen Abend weiter. Beim Kleinschneiden der Ente „Das hat eigentlich dein Vater immer übernommen, bevor er mich verlassen hat.“, bei Tisch „Ach nur wir beide – da kommt ja gar kein richtiges Gespräch zustande“ und es gipfelt beim Austausch der Geschenke „Eigentlich würde ich ja gern mal Geschenke für meine Enkelkinder besorgen – aber du arbeitest ja lieber, als dass du dir einen Mann suchst.“ Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.  

Lena steht wortlos auf und geht ins Badezimmer. Dort fängt sie an zu weinen. Ihre Mutter hat sie an ihrem empfindlichsten Punkt getroffen. Sie könnte sich schon auch vorstellen, Kinder zu haben. Und natürlich weiß sie, dass ihre biologische Uhr tickt. Aber soll sie deswegen um jeden Preis mit irgendeinem Typen? Niemals. Das zeigt ihr allein schon die Geschichte ihrer Eltern. Entweder kommt der richtige oder nicht. Natürlich fragt sie sich schon manchmal, warum ausgerechnet sie den Richtigen noch nicht getroffen hat. Aber davon lässt sie sich nicht das Leben verderben. Es gibt auch viele Vorteile, wenn man allein ist, besonders wenn man ein introvertierter Mensch ist. So denkt Lena normalerweise über ihr Singlesein. 

Aber heute, nach einem Abend mit ihrer zynischen, verbitterten Mutter, da ist sie einfach nur verletzt. Und sie beginnt zu zweifeln „Bin ich es wirklich nicht wert, dass mich jemand liebt, so wie ich bin?“

Und während sie da in dem kleinen Badezimmer ihrer Mutter, auf der zugeklappten Kloschüssel sitzt und weint, hört sie durch die Wände die Nachbarn singen

Lied

Alle Jahre wieder,

kommt das Christuskind

auf die Erde nieder,

wo wir Menschen sind.

 

Kehrt mit seinem Segen

ein in jedes Haus,

geht auf allen Wegen

mit uns ein und aus.

 

Ist auch mir zur Seite

still und unerkannt,

daß es treu mich leite

an der lieben Hand.

 

Und plötzlich, mitten in dem kleinen Badezimmer ihrer Mutter, auf der zugeklappten Kloschüssel sitzend, spürt Lena: Gott ist bei mir. Es fühlt sich an, als ob er ganz still auf dem Badewannenrand sitzt und ihre Hand hält. Sie kann seine Gegenwart fast körperlich spüren. Ein heiliger Moment. Jetzt ist Heilig Abend. Gott ist da. Hier im Klo. Und auf ihrem Lebensweg. Er segnet sie. Ob mit oder ohne Kinder. Ob mit oder ohne Mann. Er führt sie. Und damit ist alles gut.